Brand eins

Die Zeichen der Zeit

Eine Uhr, die mitdenkt – unvorstellbar? Es gibt sie bereits. Mutewatch aus Schweden hat entwickelt, wovon Apple & Co. noch träumen.

Die Geschichte einer abenteuerlichen Firmengründung.

Am Anfang war die Sache privat. Als Mai-Li Hammargren noch studierte, hatte sie ein ernsthaftes Problem mit ihrem Freund. Der war Filmregisseur, arbeitete nachts und schlief tagsüber. Sie hingegen musste morgens früh raus zu ihren Vorlesungen. Doch jeden Morgen, wenn der Wecker klingelte, wachte ihr Freund mit ihr auf, obwohl er sich gerade erst ins Bett gelegt hatte. „Ein wirklicher Belastungstest für die Beziehung“, sagt Hammargren. „Sie hat ihn auch nicht überstanden.“ Der Freund ging, die Idee eines geräuschlosen Weckers blieb: einer, der sich durch leichte Vibrationen am Handgelenk bemerkbar macht.

Pontonjärgatan 36 im Stockholmer Stadtviertel Kungsholmen. In einem Kellerbüro des Unternehmens Mutewatch sitzt Mai-Li Hammargren, 26, zusammen mit dem Cogründer Oscar Ritzén Praglowski und dem Chefingenieur Johan Thelander. 2008 haben sie gemeinsam den ersten Prototyp der Mutewatch, der stillen Uhr, konzipiert. „Damals hieß es vonseiten der Mecha- troniker, es sei unmöglich, unsere Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Zu viel Technik auf zu engem Raum. Außerdem gebe es für die Uhr keinen Absatzmarkt“, erinnert sich Ritzén Praglowski, der technische Leiter des Unternehmens.

Wie man sich irren kann: Seit dem Verkaufsstart im Herbst 2011 hat Mutewatch einen Umsatz von rund drei Millionen Euro erwirtschaftet. Die Uhr wird bereits in 27 Ländern verkauft. Rund 150 exklusive Läden wie Selfridges in London, das MoMA in New York und Voo in Berlin führen sie im Sortiment. „15 000 verkaufte Uhren innerhalb von 14 Monaten, ohne Marketing-Budget, ohne PR-Agentur und ohne große Ahnung vom Ge- schäft“ – was sie geschafft haben, ist womöglich auch für Hammargren immer noch märchenhaft.

Noch dazu auf einem Markt, den die Großen wie Apple, Google oder Samsung eigentlich unter sich aufteilen wollen. Jetzt wildern dort ausgerechnet drei Schweden, keiner von ihnen älter als 29 Jahre. Von ihrem kleinen Kellerbüro aus wollen sie „die iPhone-Generation erobern“, sagt Hammargren. Und sie meint es tatsächlich so: Die kleine Firma wagt sich in die Domäne der Großen.

Blickt man zurück und untersucht, wie sie es überhaupt so weit gebracht haben, fällt einem der enorme Ehrgeiz und die große Begeisterung der Gründer für ihr Produkt auf. Aber auch Hammargrens Fähigkeit, Netzwerke zu spannen und ihre Bekannten für die Idee einzusetzen. Damit ist ihr gelungen, wovon sämtliche großen Technologiekonzerne noch träumen: eine Smart- watch auf den Markt zu bringen.

Die Mutewatch lässt sich bedienen wie ein Smartphone, wo- bei sich die Nutzeroberfläche haptisch nicht vom Rest der Uhr unterscheidet. Sie verfügt über einen geräuschlosen Vibrations- alarm, der diskret an Termine erinnert. Ihr schlichtes Design verweist auf die schwedische Herkunft. 249 Euro kostet das neueste Modell. Bereits die Vorgängervariante erhielt 2012 den Red Dot Design Award.

Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld soll sich gleich drei davon gekauft haben. Und der Apple-Mitgründer Steve Wozniak pries die aus Kunststoff gefertigte Armbanduhr mit Touchscreen, LED- Display und USB-Anschluss mit den Worten: „Ein Meisterwerk der Kombination verschiedenster Materialien in einer Art und Weise, die ich bisher in dieser Form noch nie gesehen habe.“

In der kleinen Uhr steckt viel Zukunft. Einer Studie des Marktforschungsinstituts IHS zufolge wird der Markt der „wearable technologies“, der tragbaren Gadgets, in den kommenden drei Jahren auf ein Volumen von 4,6 Milliarden Euro wachsen. „Allein der Marktwert für Smartwatches wird bis zum Jahr 2016 mehr als zwei Milliarden Euro ausmachen“, prophezeit der IHS-Analyst Theo Ahadome.

Kein Wunder also, dass Apple im Februar ein Patent für die wahrscheinlich im kommenden Jahr erscheinende iWatch ange- meldet hat. Und bei Samsung ließ die stellvertretende Geschäftsführerin der Mobilabteilung, Young Hee Lee, im März verlauten, dass man „schon lange“ an einer Uhr arbeite.

Dass die Stockholmer Gründer schneller fertig wurden als die Technikgiganten, liegt an ihrer unbeschwerten Art, Geschäfte zu machen. Hammargren hat an der Stockholm School of Eco- nomics (SSE) Wirtschaftswissenschaften studiert und Masterkurse an der Universität St. Gallen und der London School of Economics belegt. Den dort gelernten Stoff wusste sie mit schlaf- wandlerischer Sicherheit in die Praxis umzusetzen. Ihre Kontakte in die Wirtschaft, in die Elektronik-, Mode- und Kunstszene nutz- te sie, um das eigene Unternehmen nach vorn zu bringen. Da- durch gelang es ihr, Fördergelder zu akquirieren. 2009 überwies die schwedische Regierung fast 30 000 Euro als Anschubhilfe für die industrielle Fertigung der Mutewatch.

Einen wichtigen Anteil am Erfolg hat auch die Geschäftsfrau Anna Omstedt Lindgren, die 2009 Hammargrens Mentorin wurde. Sie vermittelte der Jungunternehmerin den Kontakt zu Stockholms wohlhabender Gesellschaft. „Normalerweise liegt mir so etwas gar nicht, aber in diesem Fall habe ich eine Ausnahme gemacht. Ihr Ehrgeiz hat mich beeindruckt“, sagt die Besitzerin einer Pokerschule in Stockholms teurer Biblioteksgatan.

Hilfst du mir, helf’ ich dir – die Netzwerkökonomie

Hammargren wurde über zweieinhalb Jahre hinweg regelmäßig von Omstedt Lindgren zu Pokerabenden eingeladen. Am Spieltisch zwischen Bankern, Vorständen und Unternehmern warb sie dann für die Uhr. Immer mit dabei: ein Zeichen- koffer, in dem sie Skizzen der Mutewatch aufbewahrte. „Ich habe wirklich jedem diese Bilder gezeigt, ob er sie nun sehen wollte oder nicht.“ Heute sitzen einige der damaligen Pokerspieler im Aufsichtsrat von Mutewatch.

Davon angespornt, wagte es Hammargren, bei Firmen vorstellig zu werden, die sie als Partner gewinnen wollte. „Wir wollten von vornherein mit den Besten zusammenarbeiten. Also rief ich sie einfach an und sagte, dass Mutewatch nicht viel Geld habe, wir aber unsere Idee mit der besten Qualität umsetzen wollten. Würdet ihr uns helfen?“

Sie halfen. Und so kamen die Webdesigner von Young /Skilled mit ins Boot, sie entwarfen die Homepage. Der Fotograf Vincent Skoglund, dessen Name in der Musikindustrie einen Klang hat, schoss die Bilder für den Internetauftritt. Und Karcenti Design & Art Direction kümmerte sich um die Gestaltung der Verpackung. Mutewatch zahlte an die Unterstützer zunächst keinen Cent.

Damals war Hammargren permanent auf Achse und hat „fast kein Auge zugemacht. Ständig war ich unterwegs“, sagt sie. Da war es ein Glück, dass sie mit Oscar Ritzén Praglowski einen technischen Leiter gefunden hat, auf den sie sich verlassen kann. Er arbeitet an Prozessoptimierungen und koordiniert die Zusammenarbeit mit Produktionsfirmen wie Yomura Technologies, von denen auch Apple Teile seiner Produkte fertigen lässt.

Kennengelernt haben sich beide 2007 durch einen Professor an der Wirtschaftshochschule SSE, der glaubte, dass sie gut zueinanderpassen würden. Hammargren hatte den Entrepreneur-Kurs belegt, und ihr lautlos vibrierendes Armband war damals als zweitbestes Geschäftsmodell ausgezeichnet worden. Ritzén Praglowski wollte die Dozenten mit einem auf die Größe einer Handtasche zusammenklappbaren Kinderwagen beeindrucken. Die Idee fand keinen großen Beifall, doch der Professor war von der analytischen Begabung des Produktdesigners angetan und stellte ihn Hammargren vor. Seither teilen sich die Chefin und er einen Schreibtisch im Kellerbüro.

Wie ernst es Hammargren mit dem eigenen Unternehmen war, bewies sie ihrem Kollegen, als sie ihren Job beim Musik-Streaming-Portal Spotify kündigte, wo sie seit 2010 gearbeitet hatte. „Ein aufregendes Geschäftsmodell, von dem man eine Menge lernen kann“, sagt Hammargren rückblickend. „Aber ich wollte mich voll und ganz auf die Uhr konzentrieren.“

Der Aufwand hat sich gelohnt. Erst kürzlich wurde die Uhr in Schwedens Botschaft in Berlin zu den „20 Erfindungen für die Welt von morgen“ gekürt. Und politische Schwergewichte wie der britische Premierminister David Cameron treten mittlerweile gemeinsam mit Hammargren im schwedischen Fernsehen auf, um über weibliche Führungskräfte zu debattieren.

Ein enormer Aufstieg für eine Frau aus bescheidenen Verhält- nissen. Hammargrens Eltern machten sich nicht viel aus Geld. Ihr Vater studierte chinesische Philosophie, hatte aber nie eine Anstellung oder ein geregeltes Einkommen. Er konvertierte zum Buddhismus und gab seine Lebensphilosophie in Form eines chinesischen Vornamens an die Tochter weiter: Mai-Li – „die Schönheit der Kraft“. Ihre Mutter arbeitete ehrenamtlich für die Kirche, kümmerte sich um Alkoholkranke und überließ die vier Kinder sich selbst. „Ich respektiere die Entscheidung meiner Mutter immer mehr, je älter ich werde. Dadurch habe ich schon früh gelernt, dass man die Dinge selbst in die Hand nehmen muss, wenn man will, dass etwas passiert“, sagt sie.

Getreu diesem Motto rief sie im Sommer 2008 einen Wettbewerb an der Königlich Technischen Hochschule (KTH) in Stockholm aus, der Mechatroniker, Ingenieure und Produktdesigner anlocken sollte. Hammargren hatte die Idee für die Uhr, mit Ritzén Praglowski einen technischen Leiter, aber es fehlte noch der Ingenieur. Der geeignete Kandidat fand sich tatsächlich und erhielt das Preisgeld in Höhe von 500 Kronen, umgerechnet knapp 60 Euro. Sein Name: Johan Thelander.

„Er ist genial. Schon damals hatte er zehn Jahre lang Uhren und Wecker gebaut. Sein Wohnzimmer war voll davon“, sagt Hammargren. Eine seiner Erfindungen konnte mithilfe von Bewegungssensoren feststellen, ob man sich nach dem Klingeln des Weckers wieder ins Bett gelegt hatte. Dann gab der Wecker erneut Alarm. „Als er sich vorstellte, brachen wir den Wettbewerb sofort ab und entschieden uns für ihn.“

Thelander ist ein wortkarger Mann, die Meinungen anderer kümmern ihn nicht besonders. Nach der Schule erschien ihm das Informatikstudium zu langweilig. Er wollte lieber etwas bauen und entschied sich für Produktdesign. Einen Plan, wie es nach dem Studium weitergehen sollte, hatte er nicht. Das Interesse an technischer Entwicklung glaubt der 29-Jährige von seinen Großvätern zu haben. „Beide waren Ingenieure und Erfinder: der eine in der Luftfahrt, der andere für Kennzeichnungsmaschinen in der Schweinezucht.“

Wenngleich er schon einiges an Erfahrung mitbrachte, hatte er bei Mutewatch doch noch manche Probleme zu lösen. Etwa: Wie fertigt man Touchscreens, die beim Produktionsverfahren einem Druck von 8,2 Tonnen standhalten müssen? Thelander fand die Anleitung dazu bei Hobbybastlern im Internet. „Von 2008 bis Anfang 2010 habe ich überwiegend allein an der Technik der Uhr gearbeitet. Der fortgeschrittene und völlig funktionstüchtige Prototyp war dann im Frühjahr 2010 fertig“, sagt er. Doch das klingt glatter, als es in Wirklichkeit war. Ganze 26 Monate dauerte es, bis Thelander das richtige Gummigemisch Thermoplastischer Elastomere (TPE) gefunden hatte.

Doch am Ende ist den drei Schweden geglückt, woran viele gezweifelt hatten. „Wir kommen aus einem Land, das bis dahin nicht als Ursprung technischer Innovationen wahrgenommen wurde. Das hat sich jetzt geändert“, sagt Ritzén Praglowski. Dass sie es auf dem Markt der tragbaren Digitalprodukte mit Konkurrenten vom Kaliber Apple und Samsung zu tun haben, beunruhigt die drei nicht. Schließlich haben sie erst im März in Deutschland einen Vertrag mit der Handelskette Gravis unterzeichnet. Das Unternehmen ist vor allem auf den Vertrieb von Apple-Produkten spezialisiert. Jetzt führt es in fünf Filialen auch die Mutewatch.

„Wir haben keine Angst, aber Respekt. Apple wird sich seinen Teil des Kuchens schon nehmen, aber gleichzeitig heftig in den Markt investieren. Das verschafft auch uns größere Aufmerksamkeit. Wir haben jetzt die Gelegenheit, uns endgültig als die Pioniere der Branche zu positionieren“, sagt Hammargren.

Künftig setzt man bei Mutewatch auf die Kompatibilität der Smartwatch mit Smartphones. „Wir haben noch Großes vor“, sagt Hammargren. Wie groß, zeigt sich möglicherweise schon in ein paar Wochen. Steve Wozniak, der einst Apple mitgründete, kommt im Mai für eine Stippvisite nach Stockholm. Per E-Mail stehe man bereits in Kontakt. Auf die Frage, was das Ergebnis eines möglichen Treffens mit Wozniak sein könnte, gibt sich Hammargren zum ersten Mal verschlossen. „Mit derartigen Informationen halten wir es genauso wie Apple: Bis zum Launch bleibt alles geheim.“