Enorm

Herr Bär und die Konzerne

Gerhard Bär fertigt aus Kunststoffmüll Möbel und Skulpturen. Mit seinen Werken protestiert er gegen die Produktionsverfahren der Industrie. Nur wenige Unternehmen sind allerdings bereit, sich damit auseinander zu setzen

Der Konferenzraum im feinen Berliner Hotel Radisson Blu ist gut besetzt. Frauen und Männer in Kostümen und Anzügen sitzen dort, Europamanager der Hotelgruppe Rezidor, zu der das Radisson gehört. Sie blicken nach vorne zu dem langhaarigen Mann in zerknittertem Hemd und Bergstiefeln, der neben Rezidor- Vizepräsident Willem van der Zee steht. Der stellt den Gast gerade vor, Gerhard Bär, studierter Innenarchitekt, Künstler, spezialisiert auf Kunststoff-Recycling. Bär soll über das Thema Nachhaltigkeit sprechen, über neue Ansätze, Belegschaft und Hotelgäste für ökologische Belange zu sensibilisieren. Er soll interne Prozesse anstoßen, um den Kunststoffverbrauch zu reduzieren. Bär steht geradezu aufreizend gelassen neben van der Zee, die linke Hand in der Hosentasche.

Dann ist er mit Reden dran. „Meine Damen und Herren“, sagt Bär, „Sie leben in einer Nachhaltigkeits-Utopie!“ Pause. Der 55-Jährige lacht in sich hinein, um seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken zu geben. Er weiß, dass seine Thesen sperrig sind. „Einige Prozessabläufe in Ihren Hotels müssen nochmal überdacht werden“, fährt er fort. Um es dann knallen zu lassen: Die Bemühungen seien derzeit größtenteils „unnütz“, „unzulänglich“ oder „wenig kreativ“. Gemurmel im Publikum.

Der Mann ist kein Schönredner. Er sagt, was er denkt. Trotzdem ist Gerhard Bär zu einem gern geladenen Gesprächspartner großer Unternehmen geworden. Denn er zeigt ihnen Wege auf, um mit Kunststoff abfällen nachhaltiger umzugehen. Die Kunst ist dabei sein Mittel der Wahl: Seine Skulpturen und Designmöbel fertigt Bär ausschließlich aus Plastikmüll. Tische, Stühle, Lampen, alles aus den Abfällen, die er von der Straße aufliest oder aus Sträuchern zupft. Umweltschädliches Material, das nach einmaligem Gebrauch keine weitere Verwendung findet und oft nicht im Müll, sondern in der Natur landet.

Mit seinen Arbeiten, ob Kunst oder Gebrauchsgegenstand, will Bär Industrie und Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und eine gedankliche Blaupause liefern für die Produktionsprozesse von morgen. Ein solcher Bär’scher Denkanstoß hängt seit kurzem auch im Berliner Radisson – eine Fischskulptur, kreiert aus den leeren Shampoo-Flaschen der Hotelgäste, ihren Shopping-Tüten und den Folien der Morgenzeitungen. Der Fisch baumelt in der Lobby vor dem riesigen Aquarium des Hauses.

„Müll bedeutet Mehrwert“, sagt Bär. Das wissen nun auch die Manager der Hotelgruppe. „Wir sind ein weltweit operierendes Unternehmen und haben deshalb auch einen Aufklärungsauftrag. Dessen müssen wir uns bewusst sein“, sagt Rezidor-Präsident van der Zee. Er denke darüber nach, die Inneneinrichtung der Hotelzimmer aus dem Kunststoff fertigen zu lassen, den die Reinigungskräfte Tag für Tag einsammelten. „Wir verhandeln bereits mit Unternehmen wie der niederländischen Firma Desso, die bei der Herstellung von Teppichen auf den Cradle-to-Cradle-Ansatz setzt“ – ein Produktionsprinzip, das wie die Natur keinen Abfall kennt.

Die Kunstwerke von Gerhard Bär stehen in renommierten Ausstellungshäusern wie dem Victoria & Albert Museum in London oder dem Stedelijk Museum in Amsterdam. Sie waren auf der Internationalen Bauausstellung in Hamburg zu sehen. Und sie zieren so manche Unternehmenszentrale, wie die von Reckitt Benckiser, dem internationalen Haushaltswarenunternehmen. Einen echten Bär besitzen auch der Lebensmittelhersteller Heinz und die Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören.

Wenn er nicht gerade unterwegs ist, um Wirtschaftsbosse zu missionieren, arbeitet Bär in seinem Atelier in der Karl-Marx- Straße im Berliner Stadtteil Neukölln. Die ausgebaute Lagerhalle ist seine Kreativstätte und sein Wohnraum zugleich. Zwischen Plastikmüllbergen, Skulpturen und bunten Kunststoffmöbeln stehen eine Couch, ein Herd und eine Waschmaschine. Bär ist ein Pragmatiker. Lange Wege, womöglich in ein Büro, hält er für Zeitverschwendung.

Schon als Jugendlicher forstete er lieber Wälder nahe seines Geburtsorts Heilbronn auf, als Fußball zu spielen. Als er 18 war, prozessierte Bär am Stuttgarter Landgericht erfolgreich gegen seine Einberufung zur Bundeswehr. Heute kritisiert er Politiker und Unternehmer für ihre „fragwürdigen Nachhaltigkeitspraktiken und ihre unsinnigen Produktionsverfahren“. Seine Form des Protests ist die Kunst. Er ist davon überzeugt, dass sie „technokratischen Gedankenstrukturen“ weit überlegen ist. „Die Lösung sozialer und ökologischer Probleme findet man nicht in marktwirtschaftlichen Erlösen, sondern in der Kreativität des freien Menschenverstands.“

Seine Thesen trägt Bär leise vor. Mit sonorer Stimme und einem breiten schwäbischen Akzent. Höchstens klopft er hier und da mal mit dem Zeigefinger auf eine Tischplatte. Ist Bär ein Aspekt besonders ernst, leitet er seinen Satz mit einem Räuspern ein. Als setze er eine Art hörbaren Doppelpunkt: „Ich möchte den Gedanken, Materialien sinnvoll einzusetzen, voranbringen und salonfähig machen.“

Sein Verfahren zur Fertigung von Design-Plastikmöbeln, das Bär-Knell-Verfahren, hat er gemeinsam mit seiner damaligen Frau Beata Bär und seinem Kommilitonen Hartmut Knell entwickelt. „Vor 22 Jahren waren wir die Ersten, die so etwas gemacht haben“, sagt Bär. Das Markenzeichen des Künstlertrios: Sie verarbeiten den Plastikmüll nur so weit, dass die einzelnen Abfallprodukte für den Betrachter noch gut erkennbar sind. So entstehen Möbelstücke, auf denen zum Beispiel noch der Schriftzug einer Pril-Flasche oder einer Calgon- Packung zu erkennen sind.

„Die Calgon-Möbel sind ein wichtiger Teil unserer Corporate Identity geworden“, sagt Erhard Schöwel, ehemaliger Vizepräsident der Firma Reckitt Benckiser, die den Wasserenthärter herstellt. Das klingt erst einmal gut, aber läuft Bär nicht auch Gefahr, für PR-Zwecke missbraucht zu werden? Er sieht auch das gelassen. Immerhin sei er so im Gespräch mit hochrangigen Entscheidungsträgern und könne Öffentlichkeit für sein Anliegen erzeugen. „Kunst ist nun mal für viele gefällig. Aber kein anderes Medium kann Missstände so anschaulich und sichtbar machen“, sagt Bär. In seinem Wohnatelier besteht fast alles aus recyceltem Material, selbst der Salzstreuer.

Bär hat viele Visionen. Zum Beispiel, dass Unternehmen sich bei der Produktion ihrer Kunststoffverpackungen auf ein einziges Material beschränken, um Ressourcen zu sparen. Bislang bestehen die meisten Verpackungen aber aus einer Vielzahl von Materialien. Bär wirbt für die Idee individueller unternehmerischer Upcyclingkonzepte: Wer seine Produkte in Tüten, Tuben und Schachteln verpacke, müsse aus eigener Überzeugung dafür sorgen, den verwendeten Kunststoff in seinen operativen Kreislauf zurückzuführen – oder ihn zu Gebrauchsgegenständen zu verarbeiten. Bär ist überzeugt, dass sich die Zahl der jährlich weltweit produzierten und verbrauchten 200 Millionen Tonnen Kunststoff so „drastisch reduzieren lässt“. Von Müllverbrennung zwecks Energiegewinnung hält er dagegen gar nichts: „Dann ist der Kreislauf unterbrochen.“

Mitte der 90er Jahre zeigte sich Rolf Fehlbaum, Verwaltungsratspräsident des Schweizer Möbelherstellers Vitra, interessiert an einer Zusammenarbeit. „Aber er stand am Ende doch nicht mit aller Macht dahinter“, sagt Bär. „Ein Vertrag mit Vitra hätte die gesamte Recyclingidee vorangetragen.“ Seit über 20 Jahren predigt er seine Überzeugungen. Eine Sisyphusarbeit, sollte man meinen. Aber Bär wirkt nicht müde. Auch, weil er immer wieder auf offene Ohren stößt.

So hat der New Yorker Möbelproduzent Heller 2002 Bärs Konzept der Wiederverwertung für seine exklusiven Arco-Bellini- Stühle übernommen: Das Kunststoffzellophan, das die teuren Stücke beim Transport schützt, wurde nicht entsorgt, sondern zu weiteren Stühlen verarbeitet, die sich in Form und Farbe nicht von den ursprünglichen unterschieden. Der Verkauf der Recyclingmöbel scheiterte zwar an den zu hohen Investitionskosten. „Doch zumindest gab es den Beweis, dass wiederaufbereiteter Kunststoff auch aus ästhetischer Sicht durchaus markttauglich sein kann“, sagt Bär. Auch das Regalsystem Montana CO16 des dänischen Designers Peter J. Lassen und der Stuhlklassiker SE 68 von Egon Eiermann sind nach dem Bär-Knell- Verfahren produziert worden.

Bär lehnt sich zurück, lässt die Stille kurz für ihn sprechen. „Plastikmüll eignet sich eben nicht nur, um braune Bänke und Blumentöpfe herzustellen.“ Er zieht eine Zigarettenpackung aus der Hosentasche, streift die Folie ab und legt sie auf einen der vielen Plastikstapel. „Daraus wird später ein Tisch“, sagt er. Dass sein Recyclingprinzip in den nächsten Jahren flächendeckende Anwendung findet, glaubt er nicht. Es wird dauern, aber die Zeit kommt. „Mein Vorteil ist“, sagt er dann heiter, „dass ich mich nicht lächerlich mache, wenn ich an meinen Utopien festhalte.“